Ein Dogma ist ein Glaubenssatz, der nicht hinterfragbar ist. In der altgriechischen Sprache bedeutet „Dogma“ so viel wie Lehrsatz oder Verordnung. Die neugriechische Sprache ist direkter, „dogmatikos“ bedeutet hier „engstirnig“, „unkritisch“ oder „verbohrt“. Freies Denken ist ein Produkt des Erkennens und Verstehens, also eine sehr persönliche Sache. Dogmen hingegen sind simple, allgemeine Formeln zur Wirklichkeitsbewältigung.

Lion Feuchtwanger
Die unbefleckte Empfängnis ist unglaublich, und dennoch glauben Millionen Menschen daran. Auch der 15. August als Termin des Sommerschluss ist kalendarisch und meteorologisch zweifelhaft, und trotzdem zelebriert ihn ein Grossteil der Touristiker am Wörthersee just am Wochenende um den christlichen Gedenktag der für damalige Zeiten fast ebenso unglaublichen Himmelfahrt wie in Vitro Befruchtung Marias. Hier zeigt man Harmonie im harten Konkurrenzkampf. Sicherheit dort, wo das Neue lauert, vereint in vertrauter Atmosphäre.
Ungefähr ab zwanzigsten Juli taucht das Dogma Nachsaison auf. Beim ersten Landregen der jungen Hochsaison. Nicht aus dem See, er bleibt Individualist. Die sommerlichen Regenwolken von Balkan oder Adria schlagen auf den Magen und verursachen im Gemüt der Wörthersee Gastronomie eine unbeschreibliche Lethargie. Das Ergebnis dieser Gastroskopie an Köchen, Kellern, Wirten, Bootsverleihern und Reiseandenkenverkäufern spiegelt ein gemeinsames Symptom: „In vierzehn Tagen ist die Saison zu Ende.“ Die Hochsaison hat gerade begonnen, doch für Unternehmer und Saisonbedienstete ist es jetzt aussergewöhnlich einstimmig: „sowieso schon zu spät zum Handeln“.
Neu ist dieses Dogma nicht. Lion Feuchtwanger vermittelt im 1946 erschienen Essay Nachsaison die Stimmung der Menschen in Vörtschau.
In der beliebten, auf reichsdeutsche Sommergäste angewiesenen, kärntnerischen Sommerfrische waren viele Reichsdeutsche ausgeblieben. Die instabile Währung der nördlichen Nachbarn und das instabile Wetter am südlichen See bescherten den Vörtschauern eine schlechte Saison. Die Wiener Firmen hatten ihre Filialen vorzeitig zugesperrt. Friseure, Musiker, Kellner waren unbefriedigt raunzend in die Hauptstadt zurückgekehrt. Ein kleiner alter Herr, der an der Seepromenade spazierte, wurde von den Einheimischen hinterrücks mit plump-humorigen und wenig wohlwollenden Bemerkungen bedacht. Es war eben eine magere Saison gewesen und der Alte allein machte den Braten auch nicht mehr Fett.
Vielleicht wird vereinzelt morgen schon die Notwendigkeit der Anerkennung neuer Erkenntnisse bewusst. Sie werden von den alten Theorien wenig ausmerzen, diese aber vielleicht erweitern und das Wissen vergrößern. Aus diesem Grunde haben endgültige Dogmen in der (Tourismus)Wirtschaft keinen Platz. Wegen Dogmen wurden übrigens grausame Kriege geführt, unmenschliche Nöte herbeigeführt und geistige Quantensprünge Jahre zu spät akzeptiert. Vielleicht ist das Verstehen und Erkennen wirtschaftlicher, sozialer und klimatischer Veränderungen Anlassfall für Kontroversen, bestimmt nicht für Krieg. Vielleicht sind diese Kontroversen eine Herausforderung Dogmen aufzugeben und gegenüber dem Gast eine ganz persönliche Haltung einzunehmen, bestimmt eine Möglichkeit.